Wenn Oliver Siebeck mit einer Arbeit beginnt, steht am Anfang eine Faszination. Für ein Ding – eine Skulptur beispielsweise – für eine Situation – das Geräusch eines Insekts beim Fliegen etwa – oder, sehr oft, für eine Person – wie Isang Yun. Dann legt sich Siebeck das Handwerkszeug zurecht, mit dem er diese Arbeit erzeugen wird. Papier von der und der Struktur in dem und dem Format. Farben, wenige, hier Schwarz und Gold. Und, zentral, das Instrument. Sein Kunsterzeugungsinstrument. Die alte schwere mechanische Schreibmaschine.
Das Material, aus dem die Arbeit systematisch hergestellt wird, wird dem Gegenstand selbst entnommen. Bei der vorliegenden Arbeit sind es die im westlichen Alphabet, in der gebräuchlichsten Umschrift für das koreanische Alphabet, auch in der westlichen Reihenfolge, Vorname zuerst, aufgeschriebenen Buchstaben. Die Zeichen, die den Namen des Komponisten bedeuten und verlauten, von dem die Faszination, und damit diese Arbeit, ausging: ISANGYUN. Großbuchstaben. Systematisch eine beibehaltene Stellung der Schlagmechanik seiner Schreibmaschine also. Ganz einfach. Und genauso einfach, mit verdichtetem systematischen Variationsrepertoire, werden die Blätter bezeichnet. Reihung und Rotation, Reihung und Umkehr, Reihung und Krebs. Einfache bis mehrfache Wiederholungen. Überschreibungen von Überschreibungen. Sesshafte und nichtsesshafte Buchstaben vielleicht. Manche liegen auf der Seite, manche stehen auf dem Kopf.
Es ist nicht notwendig, etwas über Isang Yun zu wissen, um von Siebecks Blättern fasziniert zu sein und in ihnen je eigene Bedeutungssterne aufblitzen zu lassen. Sogar akustische, der sichtbar gewordene Schreibmaschinensound auf dem Papier. Tak-Taktak-Tak. Die teilweise regelrechte Lesbarkeit der Blätter. Oder prozessuale, wie das genüsslich allmähliche Aufgehen des goldenen Verstehens- und Sehenshorizonts beim sich Verdichten der Zeichen aus allen Himmelsrichtungen.
Je nachdem, wie vertraut man mit der Arbeit und dem Leben des Isang Yun ist, ist es natürlich nicht verboten und vermutlich in diesem Sinnzusammenhang auch nicht zu vermeiden, wenn man Hinweise auf Isang Yuns Leben oder Werk in Siebecks Arbeit sieht. Der Autor dieser Zeilen weiß zum Beispiel, dass es Stücke von Isang Yun gibt, in deren ersten paar Takten schon das gesamte Klangmaterial, mit dem das Stück arbeiten wird, vorgestellt wird. Genauso ist es hier bei Siebeck. Wenn man das Material und die Systematik verstanden hat, weiß man ungefähr, wie es weitergehen wird. Erleben will man es dann natürlich trotzdem noch; - oder jetzt erst recht.
Die vorliegenden Blätter mit den sesshaften und nichtsesshaften Buchstaben sind nicht die erste Arbeit von Oliver Siebeck mit dem Gegenstand Isang Yun. 2018 entstand seine Isang Yun Biografie. Hierbei waren das Zeichenmaterial für Siebecks Schreibmaschine die Ziffern der Lebensdaten von Isang Yun – 17. 9. 1917 bis 3.11.1995 – die Siebeck, im bekannten Zeichenformat und der bekannten Fortsetzungsregel folgend, Tag für Tag hintereinander auf eine ca. 20 Meter lange Papierrolle geschlagen hat. Einmal, in einem 40 Zeichen breiten schwarzen Streifen vorwärts, und einmal in einem 40 Zeichen breiten roten Streifen rückwärts.
Diese beiden nebeneinander laufenden Lebensdatenbahnen in rot und in schwarz variieren leicht in Anschlag und Farbkraft, und sie bewegen sich aufeinander zu und voneinander weg. In einer sehr dramatischen, spannungsgeladenen Passage dieser Schriftrolle überschreiben sich die beiden Bahnen an ihren Rändern. Berühren sich. Schreiben sich ineinander ein. Eine Sehnsucht. Ein Verlangen, dem man Himmelrichtungen zuschreiben kann, an deren Vereinigung Isang Yun ein Leben lang arbeitete, und einer Trennung, die sein Schicksal war.
Thomas Goldstraß, Chemnitz 5.9.2022
Satzmaterial von Oliver Siebeck aus der Korrespondenz zu den vorliegenden Blättern. Eine Dokumentation der Isang Yun Biografie (2018) findet sich unter /Isang Yun - Biografie