Im März 1999 war ich zum 100. Geburtsjahr von Borges in Buenos Aires, um Borges‘ morgendlichen Fußweg zu seiner Zeit als Direktor der argentinischen Nationalbibliothek von seiner Wohnung in der Calle Maipú/Plaza San Martin zur Nationalbibliothek in der Calle Mejico nachzugehen. Borges war in jenen Jahren schon nahezu erblindet; ...hier bilden meine Schritte / ihr unberechenbares Labyrinth, schreibt er. Ich lief mit einem Mikrofon, Aufnahmegerät und Kopfhörern und versuchte mich von meinen Ohren leiten zu lassen.
Von der Nationalbibliothek machte ich mich auf, Orte in der Stadt aufzusuchen, die mir aus Texten von Borges bekannt waren, die ich mit ihm verband. Ich stellte mein Mikrofon in Hauseingänge, auf Kinderspielplätze und Friedhöfe, ich zeichnete Straßenkreuzungen auf und Parks, Krankenhauseingänge, Bibliotheken und Cafés, schnitt Gesprächsfetzen mit und die Prediger der Plaza Miserere, hörte mich auf Baustellen um, in Werkstätten, in Einkaufszentren, ließ mich von Hundegebell führen, von dem Flügelschlagen auffliegender Taubenschwärme und von Schritten, hörte Passanten, die nach der Zeit fragten und dem Weg, fliegende Händler lockten mich an, und der Verkehrslärm betäubte mich. Ich führte Buch über meine Aufzeichnungen und vergaß sie wieder; die Geräusche, die ich mit Borges aufgerufen hatte, schichteten sich in mir zu einem umfassenden Frequenzbereich auf, der das nächste neue oder alte Geräusch nur eine Mikrofondrehung entfernt sein ließ (warum sollte nicht gelten, was Borges schreibt: Ein einziger Mensch ist geboren, ein einziger Mensch ist auf der Erde gestorben). An jeder Kreuzung schien die gesamte Straße gegenwärtig, sie verließ nur ihre horizontale Ordnung, ihr Nacheinander, das ich von Kreuzung zu Kreuzung durchlief. Lange nach Sonnenuntergang beendete ich meine soundings an der Kreuzung Santa Fé/Borges.
Eine nachträgliche Rechtfertigung, Fiktionen mit Mauern zu verbinden, las ich bei Friedrich Kittler: „Die Fiktion, ihrer Etymologie zufolge, stellt Figuren her. Fictio und figura sind urverwandt mit dem deutschen Wort Teig und dem griechischen Wort für Mauer, als jener τείχός offenbar noch aus formbarem Lehm bestand.“
Buenos Aires ist schachbrettförmig, in einem sogenannten hippodamischen Muster angelegt. Im Osten vom Rio de La Plata begrenzt, der in meinem Stadtplan unten, wo ich den Süden vermutete, eingezeichnet war, laufen die Straßen von unten nach oben, von links nach rechts. Sie stehen senkrecht zum Ufer oder folgen ihm in jede Biegung, die das regelmäßige Netz stört. Die Kreuzungswinkel der Raster biegen sich mit diesem Uferverlauf. Es kommt zu Verwerfungen. Als gäbe der Fluß seine vielfältige Strömung an die Stadt weiter, stört er den Rhythmus der Raster, provoziert Interferenzen, die sich auch weit in ihrem Inneren nicht wieder beruhigen. Die Größe der Stadt streckt die Straßen, die über Kilometer den selben Namen tragen. Jede Orientierung an Hausnummern wird langwierig, sobald sie in die Tausende anwachsen. Man orientiert sich an Straßenkreuzungen, an Schnittpunkten, die jeden Ort im Netz der Stadt lokalisieren und ihn einbinden. Jeder Ort ist mit jedem anderen verbunden, als Alphabetkombination und in der Gewißheit, von jedem parallelen Ort theoretisch nur genau eine Wendung entfernt zu sein. Diese Struktur besitzt eine unendliche Tiefe, aber keine Perspektive, weder Anfang noch Ende – Es gibt nichts Altes unter der Sonne, schreibt Borges. In einer Kreuzung versammelt sich die Straße, in einem Buchstaben der Name. Ereignisse.
Die Kreuzung Mejico/Balcarce ist alle Kreuzungen Balcarce von denen ich Aufnahmen machte: Juan de Garay, San Juan, Carlos Calvo und Chile. Die Buchstaben Mejico überschreiben sich mit den identischen aus Balcarce, diese mit den aus Juan de Garay, San Juan, Carlos Calvo und Chile; sie vervielfältigen die Kreuzungen: dreifach über c und e kreuzt Balcarce Mejico, achtfach über a, e und r Juan de Garay eine einzige Balcarce. Sie schreiben mythische Stadtpläne, Muster geronnener Zeit. In einer Art sphärischer Beobachtung versammeln sie das Vorher und Nachher, das Vorne und Hinten, etc. der Dinge in einem einzigen Ereignis (Eine einzige Wiederholung, schreibt Borges, hebt die Kontinuität von Zeit auf). Häufig sind die Techniken, die solche zeitlosen Zustände herstellen, auditiv. Man setzt sich gleichmäßigen Alltagsgeräuschen aus oder der Stille beschriebener Blätter, die beide nur eine Wendung von einander entfernt scheinen, man wiederholt Namen oder Konzepte oder läßt Buchstaben rotieren. Diese Ordnungen geben den Dingen etwas zurück. Sie nehmen ihnen den Widerspruch von Zeit, die vergeht und Identität, die andauert.
Sinn besteht auch in der Abwesenheit von Inhalt.
Passim.